Rede von Prof. em. Dr. Monika Richarz, Mitglied des Vorstandes des Internationalen Freundeskreises e.V. bis 2015, über Entstehung und Ergebnisse des vom IFK durchgeführten Siemens-Zwangsarbeit-Projektes bei der Vorstellung des vom IFK herausgegebenen Buches „Zwangsarbeit für Siemens im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück“ in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück am 23.April 2017:
„Liebe Freunde, liebe Gäste,
die jetzt vor uns liegende Dokumentation enthält Berichte von 75 Zeitzeuginnen, die als Häftlinge des KZ Ravensbrück 1942-1945 Zwangsarbeit leisten mussten im Rüstungsbetrieb der Firma Siemens & Halske. Diese sogenannte „Fertigungsstelle“ war eine große Produktionsstätte für feinmechanische Geräte, die zeitweise täglich bis zu 2300 Frauen aus ganz Europa in den Werkhallen neben dem Lager beschäftigte. Je stärker die Siemenswerke in Berlin bombardiert wurden, desto mehr wurde die Produktion nach Ravensbrück verlegt.
Was gab unserer Arbeitsgruppe den Anlass für eine solche Dokumentation? Seit 2010 existiert in der Gedenkstätte Ravensbrück ein erfolgreiches pädagogisches Projekt, genannt siemens@ravensbrück, das alljährlich die Auszubildenden der Werner-von-Siemens-Werkberufsschule mit überlebenden Zwangsarbeiterinnen der Siemenswerke vor Ort in Ravensbrück zu einer Begegnung zusammenbringt. Heute, 72 Jahre nach der Befreiung des Lagers, gibt es nur noch sehr wenig Überlebende. Andererseits existieren verstreut und in zahlreichen Sprachen ungedruckte und gedruckte Berichte der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen zur Arbeit bei Siemens. Diese ergeben zusammen einen facettenreichen Einblick in die Arbeits- und Lebensbedingungen dieser Frauen. Sie dokumentieren das soziale System der Zwangsarbeit im Kontext des KZ, aber auch den Willen der Frauen zu Selbstbehauptung und Widerstand unter extremen Bedingungen. Mit dem Schwinden der Zeitzeugen von NS Verbrechen wird die kommentierte Veröffentlichung solcher Quellen umso dringender, denn sie können als Erlebnisberichte den nachfolgenden Generationen ein anschauliches Bild des Geschehenen vermitteln – gerade auch durch ihren subjektiven Charakter.
Bei den Quellen handelt es sich um Ausschnitte aus autobiographischen Texten verschiedener Gattungen: um Haftberichte, Zeugenaussagen, Briefe, Interviews, Tagebücher, Entschädigungsanträge und Memoiren. Die überlebenden Zwangsarbeiterinnen schrieben oder publizierten in zahlreichen Sprachen, so dass wir in unserer Arbeitsgruppe eine hohe Sprachkompetenz benötigten. Wir stellten in diesem Band schließlich Zeugnisse aus ein Dutzend Nationalitäten zusammen: aus Deutschland, Österreich, Polen, Frankreich, der Sowjetunion und Jugoslawien, sowie aus Ungarn, Italien, der Tschechoslovakei, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg. Der Bedarf an Übersetzungen war entsprechend hoch – und kostspielig, aber nur so konnten auch in Deutschland bisher völlig unbekannte Quellen erschlossen werden.
Von vornherein hatten wir geplant, ausschließlich Zeugnisse der Siemens Zwangsarbeiterinnen aus Ravensbrück abzudrucken, nicht aber Akten der Siemens & Halske AG selbst. Diese wurden aber, soweit zeitgenössisch, zur kritischen Kommentierung und für Fußnoten herangezogen. Dabei handelt es sich z.B. um Statistiken zu Arbeitszeit und Zahl der Zwangsarbeiterinnen, die das Siemensarchiv in München zur Verfügung stellte. Vor allem aber konnte die Arbeitsgruppe durch einen dreimaligen Besuch im Münchner Siemensarchiv über 2500 Entschädigungsanträge einsehen, die Siemens nach Einrichtung eines Humanitären Hilfsfonds ab 1999 zugingen. In diesen Anträgen befanden sich auch zahlreiche Berichte zur Zwangsarbeit bei Siemens in Ravensbrück, von denen einige in den vorliegenden Band aufgenommen wurden.
Diese Zeugnisse im Siemensarchiv entstammen einer Spätzeit. Prinzipiell zuverlässiger in der Erinnerung sind meistens die Berichte aus der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dazu gehören etwa die Befragungen polnischer KZ Überlebender aus Ravensbrück in Schweden 1945/46, ferner die Zeugenaussagen in den Ravensbrückprozessen, die die Britische Besatzungsbehörde 1946/47 in Hamburg durchführte. Auch in der Zentralstelle zur Ermittlung von NS Verbrechen in Ludwigsburg befinden sich Zeugenbefragungen von Zwangsarbeiterinnen in Ravensbrück. Die Gedenkstätte selbst besitzt ein umfangreiches Archiv, in dem vor allem die Sammlung Buchmann einschlägige Quellen aufweist.
Auch bereits im Ausland publizierte Autobiographien und Sammelbände zu Ravens brück wurden herangezogen. Eine weitere Quellengruppe bilden Video-Interviews . Hier konnte vor allem das Video Archiv von Loretta Walz genutzt werden mit Interviews geführt von 1993-2015.
Diese sehr unterschiedlichen Erlebnisberichte wurden von der Arbeitsgruppe kritisch gelesen und in den entsprechenden historischen Kontext gestellt. Namens- Zeit- und Ortsangaben mussten so weit möglich überprüft werden. Angaben über Vorbildung und politische Orientierung der Verfasserinnen finden sich in den Kurzbiographien im Anhang. Es waren meist Frauen mit höherem Bildungsgrad und ausgeprägterem politischen Bewusstsein, die die Berichte verfassten. Auffallend ist, dass die nationalen Haftgruppen sehr unterschiedlich stark als Autorinnen vertreten sind. Die beiden größten Häftlingsgruppen bildeten Deutsche inklusive Österreicherinnen einerseits und Polinnen andererseits. Dennoch sind die Polinnen wie alle Osteuropäerinnen unter den Autorinnen von Berichten nur ganz schwach vertreten. Das Gleiche gilt für die Frauen aus der Sowjetunion, unter ihnen zahlreiche Soldatinnen und Sanitäterinnen. Polinnen wie Russinnen fürchteten offensichtlich im Stalinismus eine Anklage und Bestrafung wegen Kollaboration, weil sie in einem deutschen Rüstungsbetrieb gearbeitet hatten.
In fast allen nationalen Häftlingsgruppen befanden sich auch jüdische Frauen in Ravensbrück. Zumeist kamen sie erst Ende 1944 in das überfüllte Lager, als Auschwitz geräumt werden musste. Im Siemenskommando waren schätzungsweise 10-15 Prozent der dortigen Zwangsarbeiterinnen jüdische Frauen. 266 können wir namentlich belegen. Doch gibt es von ihnen nur wenige Berichte, denn sie arbeiteten dort nur kurz, und ihre Zeugnisse werden von Auschwitz dominiert.
Zum Abschluss noch eine Bemerkung zu unserer Arbeit und ihrer Finanzierung. Wir hatten 2012 die Dokumentation auf 150 Seiten geplant und zwei Jahre Arbeit veranschlagt. Doch es kam zu 334 Seiten in vier Jahren. Die meiste Arbeit wurde ehrenamtlich geleistet. Auf unseren Antrag hin unterstützte uns die Firma Siemens finanziell, inhaltlichen Einfluss nahm sie aber nicht. Dank dieser Spende war es möglich, die Übersetzungen, die Archivreisen und den Druck des Buches zu bezahlen – vor allem aber das Honorar der Hauptbearbeiterin Janna Lölke. Von ihr stammen alle einführenden Texte zum Gesamtband wie zu den einzelnen Kapiteln und auch die Auswahl der Quellentexte.“
Inhalt
Grußwort
von Insa Eschebach,
Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück 7
Grußwort
von Peter Plieninger, Internationaler Freundeskreis e. V.
für die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück 9
Dank 11
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter 12
Einführung 13
Kapitel 1:
Siemens suchte jetzt Häftlinge …“. Aufbau und Beginn der Produktion 47
Kapitel 2:
„Siemens hatte ein raffiniertes System …“. Machtverhältnisse und Arbeitsbedingungen 83
Kapitel 3:
„Den Magen immer leer, den Kopf schläfrig …“. Lebensbedingungen 135
Kapitel 4:
„… das ganze Bandl ist gestanden.“ Widerstand und Sabotage 199
Kapitel 5:
„Fliegeralarm gehörte zu den glücklichsten Momenten …“ Auflösung und Befreiung 241
Kurzbiografien der Zeitzeuginnen 277
Abkürzungsverzeichnis 311
Glossar 313
Quellen- und Literaturverzeichnis 317
Personenregister 327
Zum Herausgeber 335
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